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Demenz - Angehörige im Dialog

Literatur bei ambet

Demenz - Angehörige im Dialog

Braunschweig 2005; 203 Seiten. ISBN 978-3-938216-02-6. 11,80 EUR.

Entstanden in Kooperation mit Prof. Dr. Joachim Döbler.

Vorwort

Das Vorwort weist auf „Demenz“ als eine der größten sozial- und gesundheitspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte hin, die Bedeutung der familiären Pflege und die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen in Familie, Kommune und Gesamtgesellschaft. Fünf Interviews von Angehörigen in verschiedenen Lebenslagen werden von drei Fachbeiträgen (medizinische Betrachtung, Beschreibung der Beratungsarbeit sowie sozialpolitische Einordnung) flankiert. Den Abschluss bilden Informationsquellen zum Thema Demenz und Kurzportraits der Autoren. Die Zielgruppen des Buches sollen „Angehörige“ sowie „professionelle Pflegemitarbeiter und alle anderen Betreuer und Helfer“ sein. Die Beiträge sollen den Angehörigen psychosoziale Hilfen aufzeigen und zum Dialog mit Ärzten, Beratungsstellen und anderen Angehörigen anregen. Für professionelle Pflegemitarbeiter und alle anderen Betreuer und Helfer sollen sie zum Verständnis der Angehörigensituation, vor allem in der familiären Versorgung, beitragen.

1. Krankheit des Vergessens - aber keine vergessene Krankheit (Peter Schlegel)

Der Autor will aus medizinischer Sicht insbesondere die Aspekte in den Blick nehmen, die für Angehörige im Umgang mit Erkrankten, Ärzten, Pflegekräften und im sonstigen sozialen Umfeld hilfreich sind. Er definiert die Alzheimer-Krankheit, zeigt die soziale und volkswirtschaftliche Bedeutung der Erkrankung auf und gibt in verständlicher Sprache eine Beschreibung der klinischen Symptomatik bis hin zu den verschiedenen Aspekten und derzeitigen Möglichkeiten sowie Grenzen einer umfassenden Diagnostik. Er nimmt eine Abgrenzung zu anderen Krankheiten mit ähnlichem Beschwerdebild vor, gibt im Abschnitt „Ursachen“ Auskunft über die hirnorganischen Veränderungsprozesse, den Faktor „Erblichkeit“, nimmt Stellung zu derzeit diskutierten Risikofaktoren und beschreibt den Verlauf der Krankheit sowie Möglichkeiten der Behandlung. Die Ausführungen zu den medikamentösen Therapieansätzen erfolgen mit Hinweis auf die intendierten Wirkungen sowie möglichen Nebenwirkungen. Nicht-medikamentöse Behandlungsansätze wie Psychoedukation, verhaltenstherapeutische Interventionen u.a. sowie psychotherapeutische Unterstützung, Selbsthilfegruppen, Angehörigeninitiativen, Beratungsstellen u.a. als Entlastung für pflegende Angehörige werden nur benannt.

2. Den Pflegenden eine Stimme geben (Matthias Hundt)

Die fünf Interviews wurden mit pflegenden Töchtern (3) und pflegenden Ehefrauen (2) durchgeführt. Hier einige Einblicke:

  • „… und jetzt muss ich über ihr Leben bestimmen, obwohl ich das eigentlich gar nicht will.“
    Eine 43-jährige Frau mit 2 Kindern (heute 8/10 Jahre) pflegt alleine seit 6 1/2 Jahren (seit 3 Jahren in einem Haushalt) ihre Mutter, obwohl es noch zwei Brüder gibt und obwohl das Verhältnis zu ihrer Mutter früher recht schwierig war. Sie erzählt von ihren Problemen und dem Spannungsfeld, in dem sie lebt, sie berichtet aber auch von wertvollen Erfahrungen und von eigenen inneren Prozessen, die nun wichtiger Teil ihres Lebens sind.
  • „… sie war immer für mich da, und jetzt kann ich das irgendwie gutmachen“.
    Eine 63-jährige Frau pflegt seit 6 Jahren mit Unterstützung ihres Mannes ihre 92-jährige Mutter. Sie pflegt, obwohl die Pflege ihre Lebenspläne und die ihres Mannes aufgelöst hat und sie den Gedanken an eine weitere Pflegekarriere (Ehemann 70 Jahre) vor Augen hat. Aber sie erzählt auch von einer Erweiterung ihres Horizontes und Wachstum ihrer Persönlichkeit durch die Pflege.
  • „… und von da an habe ich fünf Jahre keine Nacht durchgeschlafen“.
    Eine 55-jährige Witwe pflegt seit 9 Jahren (seit 4 Jahren bettlägerig) ihre Mutter in einem Haushalt, in dem auch der 24-jährige Sohn lebt. Eine Schwester in der Nähe und zwei Halbschwestern überlassen ihr die Pflege. Wie bei vielen anderen Pflegenden richtet sich ihr Leben nach der Erkrankten: Sie berichtet von ihren seelischen Belastungen und ihren Ängsten, aber auch von ihrer Liebe zu ihrer Mutter, denn „ohne Liebe im Herzen geht es nicht“.
  • „… und es fragt auch keiner: Wie geht es dir denn?“.
    Eine 55-jährige Frau pflegt seit ungefähr 5 Jahren zunächst zu Hause und dann im Heim ihren Ehemann, der aus Überzeugung selbst früh die Entscheidung traf, in ein Heim zu übersiedeln. Sie erzählt ihren Weg von der Ehefrau zur pflegenden Angehörigen.
  • „… wenn Sie die Krankheit Ihres Mannes nicht annehmen, dann schaffen sie das nicht“.
    Eine 66-jährige Frau pflegt seit 9 Jahren ihren Ehemann, obwohl jeder ihr davon abgeraten bzw. zu einer Heimplatzierung geraten hat. Sie erzählt, wie sie es geschafft hat, die Krankheit anzunehmen und dabei gesellschaftliche Tabus ignorierte. Sie ist pflegende Angehörige und liebende Ehefrau, und ihr Mann ist immer noch ihr Ehemann. Ihre Ängste gelten auch der Zukunft ohne ihn.

Diese mehrstündigen Gespräche, die nur durch wenige Impulsfragen gelenkt wurden, sind in Originallänge wiedergegeben. Das Ergebnis sind Schilderungen, die sehr Privates und Intimes der Familien- und Pflegesituation offenbaren und gleichzeitig etwas von der entlastenden Wirkung von Gesprächen spüren lassen. Die Beispiele sind nicht repräsentativ, aber geben Einblicke in die Individualität und Bandbreite von häuslicher Pflege und lassen deutlich das breite Spektrum subjektiven Belastungserlebens erkennen. Die Darstellungen lassen die emotionalen und seelischen Belastungen begreifen, erzählen vom Alltag, von fehlender ärztlicher Unterstützung, vom Schmerz der Rollenumkehr, von aufgegebenen Zukunftsplänen und Ängsten das eigene Alter betreffend, von der Entscheidung für oder gegen künstliche Ernährung und vieles mehr. Sie bleiben in diesem Kapitel unkommentiert stehen und klingen so lange nach. Es wird fühlbar, dass das Annehmen der Krankheit und die Liebe mit die wichtigsten Voraussetzungen sind, eine langfristige, Sinn gebende Pflege und Betreuung überhaupt leisten und Krisenzeiten positiv bewältigen zu können. Die hier zu Wort kommenden Pflegenden sind Beispiel dafür, dass Hilfe von Außen selten vorhanden ist bzw. selten in Anspruch genommen wird und die Selbstsorge gering ist.

3. Gerontopsychiatrische Beratungsarbeit (Gertrud Terhürne)

Die seit 1987 existierende Beratungsstelle in Braunschweig, deren inhaltlicher Schwerpunkt Demenzerkrankungen sind, wird personell und inhaltlich vorgestellt. Zu den Beratungen bietet sie Gesprächsgruppen für pflegende Angehörige, Betreuungsgruppen und Förder- und Gesprächsgruppen für Erkrankte an und betreibt Öffentlichkeitsarbeit in Form von Infoveranstaltungen, Schulungen etc. Drei Abschnitte des Kapitels beschäftigen sich mit den für die Krankheitsphasen bekannten Problemen, die beschrieben, mit Zitaten aus den Interviews und anderen Beratungsgesprächen ergänzt und analysiert werden. In drei weiteren Abschnitten werden besondere Fragestellungen behandelt, wie sie bei pflegenden Partnern bzw. pflegenden Kindern entstehen sowie in der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld. Am Ende jedes Abschnitts werden Empfehlungen und Hilfestellungen skizziert. Die einzelnen Abschnitte nehmen folgende Themen in den Blick:

  • Die frühe Phase der Erkrankung: erste Anzeichen - die Diagnose - Zukunftsperspektiven - Medikamente - Übernahme von Betreuung und Pflege - das Belastungserleben der Angehörigen - Aktivierung des Erkrankten.
  • Die mittlere Krankheitsphase: hohe zeitliche Belastung - Verlust Verhaltenskontrolle - Einschränkung des vertrauten Miteinanders - Angst vor Aggressionen - Verweigerungshaltung und Machtkämpfe - langsamer Abschied - Inanspruchnahme von Hilfen
  • Die späte Krankheitsphase: körperlich schwere Pflege - die vollständige Übernahme der Verantwortung - Ekel und Scham - die Übersiedlung in ein Pflegeheim als Entscheidungskonflikt - der Heimaufenthalt des Erkrankten - Bettlägerigkeit erleichtert die häusliche Betreuung - die Auseinandersetzung mit dem Tod
  • Besonderheiten bei pflegenden Partnern: die Bewältigung von Veränderungen: Abnehmende Flexibilität - das fehlende Verständnis der Kinder - Auflösung der Partnerschaft - Pflege als Lebensinhalt
  • Die Situation bei pflegenden Kindern: Veränderungen der Wohnsituation - Die Pflegemotivation der Kinder - Zwischen zwei Anforderungen - Rollenumkehr
  • Die Rolle des sozialen Umfeldes: die Demenz als Tabuthema - Erwartungshaltungen und Vorurteile - die Kompetenz der Angehörigen

4. Demenzkranke in häuslicher Versorgung - eine gesellschaftliche und sozialpolitische Herausforderung (Joachim Döbler)

Der Autor nimmt auf etwas über 30 Seiten straff das Versorgungssystem in den Blick. Er zeigt Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die Versorgungssysteme, wendet sich Daten und Fakten über heutige sowie zukünftig erwartbare Pflegeverhältnisse und Betreuungssituationen zu, befasst sich mit Wohnkonstellationen, Belastungsquellen sowie Belastungszusammenhängen und zeigt die Auswirkungen auf die Lebenswelt der Pflegenden. Des weiteren beschäftigt er sich mit den unterschiedlichen Angeboten und Hilfesystemen und den eng begrenzten Leistungsansprüchen für Demenzkranke im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes. Die Situation von Angebot und Inanspruchnahme von Hilfen beschreibt er berechtigt als diffus und insgesamt unbefriedigend, führt dazu Zahlen und Erklärungen an und weist auf die Dringlichkeit einer weiteren Ursachenforschung hin. Resümierend fordert er auf die Zielgruppe zugehende Konzepte, die sich auf "Lebenssphären, Erfahrungswissen und Handlungsorientierung" verstehend einlassen und Normalitätsmaßstäbe und Unterstützungserwartungen pflegender Angehöriger berücksichtigen. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit den Voraussetzungen für den Erfolg geriatrischer Interventionen durch integrierte Versorgungsstrukturen im Bereich der häuslichen Pflege, der hausärztlichen Versorgung und der Hilfesysteme insgesamt und nimmt das Konzept "Wohlfahrtspluralismus" mit seinen Chancen, Problemen und Anforderungen an alle Beteiligten in den Blick. Weiterhin wendet er sich nochmals dem die demografische Entwicklung begleitenden Wandel der familiären Netzwerke hinsichtlich Menschen mit gerontopsychiatrischen Diagnosen und ihren privaten Unterstützungssystemen zu. Das Zukunftsproblem "Demenz", so der Autor, braucht Lösungsansätze, die "über den Bearbeitungshorizont der Altenhilfe hinausgehen und letztlich in Fragen der Gesellschaftsgestaltung, der Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit eingreifen." Dazu greift er aktuelle fachwissenschaftlich und fachpolitisch diskutierte Fragen auf wie beispielsweise: Wie können Leistungssysteme so abgestimmt werden, dass effiziente und bedarfsgerechte Versorgung gewährleistet ist? Welche Ressourcen sollen in soziale Güter investiert werden und wie sollen diese verteilt werden und wie tragfähig ist soziales Kapital?

Anhang

Der Anhang „Adressen und Informationen zum Thema 'Demenz'“ zeigt einige der bekannten Stellen mit Anschrift und Internetadresse.

Autoren

  • Joachim Döbler. Professor für Soziologie und Soziale Gerontologie an der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel. Lehr- und Arbeitsschwerpunkte: Alternssoziologie, Soziale Sicherungssysteme, Organisationssoziologie, Sozialgeschichte, Wissensmanagement. Weitere Hinweise unter www.doebler-online.de.
  • Matthias Hundt. Studium der Sozial- und Politikwissenschaft; bis Ende 2004 Medienautor beim Verein ambet e.V.
  • Dr. med. Peter Schlegel. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie; tätig als Oberarzt in der psychiatrischen Abteilung Klinikum Braunschweig und im Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes.
  • Gertrud Terhürne. Dipl. Psychologin, Leiterin der Gerontopsychiatrischen Beratungsstelle beim Verein ambet e.V. und Gründungsmitglied der Alzheimer Gesellschaft Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Demenz-Beratung, Kurse, Vorträge und Fortbildung zu gerontopsychiatrischen Themen.